HANDBALL inside | Ausgabe #59 5/2024
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AUSGABE #59 5/2024 7,50 EURO
THW KIEL Rekordmeister unter Druck
MARCO GRGIC Senkrechtstarter und Olympiaheld
DHB-FRAUEN EM-Halbfinale im Visier
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EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
Foto: Newerla Foto: Beate Haar
Er war vermutlich nicht der auffälligste Spieler bei den Olympischen Spielen, aber ganz sicher war er die außergewöhnlichste Nominie rung von Bundestrainer Alfred Gislason für die Reise nach Paris und Lille. Marko Grgic war so etwas wie der Überraschungsgast auf einer Party, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Dem 1,97 Meter gro ßen Rückraumspieler, der in Eisenach unter Vertrag steht, haben wir unsere Titelstory gewidmet – auch deshalb, damit Sie, liebe Leser, ihn noch ein wenig besser kennenlernen. Denn offensichtlich ist der Mann gekommen, um zu bleiben. Was die Liga betrifft, geht der Blick diesmal in den Norden, wo der THW Kiel darum ringt, wieder Anschluss an die erfolgreichen Zeiten vergan gener Tage zu finden, und der HSV Hamburg wieder mal einen wirt schaftlichen Neuanfang wagen muss. Wir verabschieden uns von Welt meister Jogi Bitter und von Bronzemedaillen-Gewinner Paul Drux, die beide ihre Karrieren beendeten. Zudem sprachen wir mit Junioren-Na tionaltrainer Martin Heuberger über den Nachwuchs, mit Ingo Meckes, der am 1. September die Nachfolge vom Vorstand Sport, Axel Kromer, angetreten ist, und mit Maik Machulla über sein Trainer-Engagement im dänischen Aalborg. Frei nach dem Motto: Wenn man wissen will, wie man fliegt, dann fragt man den Adler und nicht den Pinguin. Ein Schwerpunkt in dieser Ausgabe gehört erneut den ballwerfenden Damen. Und das aus gutem Grund: Im Dezember spielt das Team von Bundestrainer Markus Gaugisch eine Europameisterschaft, wozu die Nationalmannschaft zur Vorrunde nach Innsbruck und zur Haupt- und Endrunde – die Qualifikation einmal vorausgesetzt – nach Wien reisen wird. Natürlich haben wir im Vorfeld ausführlich mit dem DHB-Coach darüber gesprochen, welchen Stellenwert eine solche EM ein Jahr vor der Weltmeisterschaft im eigenen Lande genießt und wie endlich einmal der Sprung ins Halbfinale einer sol chen Veranstaltung gelingen kann. Zudem enthält dieses Magazin ein kompaktes Paket mit den wichtigsten Informationen zum ersten Highlight nach Olympia.
Den Füchse-Fans bot sich nach dem Sieg gegen Leipzig ein gewohntes Bild: Kapitän Paul Drux schrieb Autogramme, lächelte mit Fans für Fotos und spielte anschließend mit seiner kleinen Tochter auf dem Hand ballfeld. Die dritte Halbzeit wurde wieder zu einem herzerwärmenden Anblick für alle Zuschauer. Was damals niemand ahn te: Ein paar Tage später zog sich der Füh rungsspieler beim Training eine schwere Knieverletzung zu. Diagnose: Karriereende.
Eigentlich muss THW-Geschäftsführer Viktor Szilágyi einen „Fanboy-Moment“ erlebt haben, als er bei der diesjährigen Pokalauslosung auf HSV-Trainer Steffen Baumgart traf. Seit seiner Kindheit ist Szi lágyi ein glühender Fan des Fußballclubs. Allerdings machte Baumgart als Losfee aus Szilágyis Sicht fast alles falsch. Der THW trifft im Achtelfinale auf den SC Magdeburg, eine Paarung, die viele Fans lieber als End spiel gesehen hätten. Szilágyi hält dem HSV dennoch weiterhin die Treue und sagt, „im merhin müssen wir nicht auswärts spielen“.
Viel Spaß bei der Lektüre wünscht Ihnen
Arnulf Beckmann
AUSGABE #59 5/2024
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INHALT
#59
6 HERBSTLICHE HÖHENFLÜGE
8 DOPPELTE PREMIERE IN DÜSSELDORF
10 IN HAMBURG SAGT MAN TSCHÜSS
12 NACHGEFRAGT
bei Alexander Petersson
15 NEWS
16 KOLUMNE
von Uwe Gensheimer
Foto: Christina Pahnke/DHB
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Bundestrainer Alfred Gislason freut sich auf die WM 2027 in Deutschland: „Keine Nation macht das besser!“
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AUSGABE #59 5/2024
INHALT
60 MS. STEELHAMMER
Leipzigs Talent Marlene Tucholke im Porträt
62 SOCIAL MEDIA
64 PREUSSISCHE DISZIPLIN – NORDISCHE GELASSENHEIT Ein Gespräch mit Aalborg- Coach Maik Machulla
70 HELLO AGAIN, HAMBURG Neues Zuhause für Flagship-Event
72 NEWS
74 DER BESSERMACHER Tomas Svensson im Porträt
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Foto: Beate Haar Foto: imago
18 PLÖTZLICH OLYMPIAHELD Eisenachs Marko Grgic im Porträt
46 „ES ZÄHLT NUR DIE ABSOLUTE SPITZE“ Juniorenbundestrainer
Martin Heuberger analysiert den Nachwuchs
24 DAS IMPERIUM WANKT Warum der THW Kiel zur Champions League verdammt ist
50 HALBFINALE IM VISIER Vorschau auf die Europa- meisterschaft der Frauen
32 DER VIERTE VERSUCH Neustart beim HSV Hamburg
58 „DER WELTSPITZE EIN
STÜCK NÄHER KOMMEN“ Emily Bölk im Interview
34 KÄMPFER, KAPITÄN UND VORBILD Über das Karriereende des Paul Drux 38 BACK TO THE ROOTS DHB präsentiert Spielorte für die WM 2027
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Foto: Newerla
78 VIVA LA VIDA
Sven Lakenmacher eröffnet Restaurant auf Mallorca
82 DIE WASSERSCHLACHT Über das letzte Endspiel der Feldhandball-Bundesliga 86 „BEI UNS IN GLÜCK- STADT WURDEN TALENTE GEFÖRDERT“ Kerstin Joensson über vergangene Zeiten
40 „MITEINANDER, NICHT ÜBER
EINANDER REDEN“ DHB-Vorstand Sport Ingo Meckes im Interview
44 DAS NEUE GESICHT DES DHB Wie Benjamin Chatton die
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Nationalmannschaft managen will
90 IMPRESSUM
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Foto: imago
Da fliegt er zu einem weiteren Treffer, der Justus Fischer aus Hannover, in dieser Szene überwin det der wuchtige Kreisläufer den Eisenacher Keeper Silvio Heinevetter. Und mit Fischer setz ten die Recken aus dem Niedersächsischen zu einem ungeahnten Höhenflug an, inklusive zwei er umjubelter Heimsiege gegen die Füchse Ber lin und die SG Flensburg-Handewitt – und einer sensationellen zeitweiligen Tabellenführung. Das Team des früheren Bundestrainers Christian Prokop ist indes nicht die einzige Überraschung in der noch jungen 59. Spielzeit der Handball Bundesliga, die so spannend und ausgeglichen ist wie seit vielen Jahren nicht. Die enorm ab wehrstarke MT Melsungen startete wie im Vorjahr rasant und nutzte einen schwachen Moment des Rekordmeisters, um erneut beide Punkte von der Kieler Förde ins Nordhessische zu entführen. Und auch die Rhein-Neckar Löwen und der TBV Lemgo Lippe überraschten einige Hochkaräter und setzten zu ungeahnten herbstlichen Höhen flügen an. Ganze acht Clubs umfasste die Spitzengruppe, die bis Ende Oktober nur drei oder vier Punk te auseinanderlag. Daher fragte der Boulevard schon keck, ob Teams wie Hannover oder Mel sungen sogar Deutscher Meister werden könn ten. Tatsächlich profitierten die Außenseiter of fensichtlich von den Schwächen der Favoriten, denen zudem Schlüsselspieler wegen teils lang wieriger Verletzungen fehlten, etwa Harald Rein kind beim THW Kiel, Felix Claar in Magdeburg oder Mathias Gidsel in Berlin. Auf der anderen Seite aber steht eine bemer kenswert kontinuierliche Aufwärtsentwicklung in Melsungen, Hannover und Lemgo. Und damit verfestigt dieses Trio den Markenkern der HBL als „stärkste Liga der Welt“. HERBSTLICHE HÖHENFLÜGE
DOPPELTE PREMIERE IN DÜSSELDORF Die Spieler glänzten in Gold nach der Siegerehrung. Und strahlten vor Glück. Soeben hatten die Füchse Berlin ihren Widersacher und Erzkonkurrenten, den SC Magdeburg, im Düsseldorfer PSD Bank Dome mit 32:30 bezwungen und als Lohn den Supercup der Handball-Bundesliga in Emp fang nehmen dürfen. Die lange Siegerliste, in die sich in den vergangenen zwölf Jahren immer nur der THW Kiel, die Rhein-Neckar Löwen und die SG Flensburg-Handewitt eintragen durften, erhält damit einen neuen Namen. Zum ersten Mal durften Jerry Tollbring (Foto) und seine Mit streiter den Pokal in die Höhe recken. Und auch, wenn der Titel „Supercup-Gewinner” nicht die bedeutsamste Aus zeichnung ist, so war der Triumph der Hauptstädter enorm wichtig für das Selbstvertrauen der Mannschaft, die zuletzt viele wichtige Duelle in Meisterschaft und Pokal gegen die Bördeländer, die in der abgelaufenen Saison das Double gewinnen konnten, verloren hatten. Das sah auch Tollbring nach Spielschluss nicht anders. „Es ist nicht der größte Ti-
Foto: imago
tel, aber es ist ein Titel”, so der schwedische Linksaußen der Füchse. „Und das gegen den SC Magdeburg.” Die erfolgsverwöhnten Handballer des SCM hingegen scheinen gerade ein wenig das Siegen verlernt zu ha ben. Die Niederlage gegen die Füchse war der Auftakt, nur drei Wochen später unterlag das Team von Trainer Bennet Wiegert auch daheim im Topspiel gegen den THW Kiel mit 24:29. Doch auch die Füchse erwischte es am dritten Spieltag. Mit 35:38 unterlagen die Berliner in Hannover bei der TSV – und das mit 35:38. „Wenn man 38 Treffer kassiert, muss der Grund dafür in der Abwehr liegen”, so Füchse-Trainer Jaron Siewert. „Wir müssen unsere Fehler minimieren.”
Daran war allerdings an jenem Abend in Düsseldorf noch nicht zu denken. Mehr als 9.000 Besucher hatten Spaß an einem spannenden Spiel, nachdem zuvor bereits die HB Ludwigs burg – früher bekannt als BBM Bietigheim – den Super Cup der Frauen gewonnen hatte. Die Frauen aus Südwest hatten Po kalsieger TuS Metzingen beim 32:24 keine Chance gelassen. „Wir sind mit dieser Veranstaltung sehr zufrieden”, sagte Frank Bohmann, Geschäftsführer der Handball-Bundesliga, der zum ersten Mal auf eine Doppelveranstaltung dieser Art zurückbli cken konnte. „Ich denke, wir haben die Herzen der Fans gewon nen.” Wo der Supercup im nächsten Jahr stattfinden wird, ist allerdings noch fraglich. Nach sieben Veranstaltungen in der Rhein-Metropole endet der Kontrakt mit Düsseldorf. AB
Foto: imago
Der letzte Weltmeister von 2007 verlässt die große Handball-Bühne. Johannes „Jogi“ Bitter verkündete nach dem Pokalspiel gegen den THW Kiel sein sofortiges Karriereende mit den Worten: „Der Tag ist gekommen.“ Die offizielle Verabschiedung des 42-jährigen HSV-Keepers findet beim letzten Heimspiel des Jahres, kurz vor Weihnachten, gegen die SG Flensburg-Handewitt statt. In seinen 26 Profijahren holte „Jogi“ jeden Club-Titel. Er wurde Deutscher Meister, Pokal- und Supercupsie ger, gewann den EHF-Pokal und die EHF Champions League. Mit 174 Einsätzen für die deutsche National mannschaft und dem Weltmeistertitel zählt er zu den erfolgreichsten deutschen Handballern. Der fünffache Familienvater bleibt dem Sport und seinem langjährigen Herzens-Club, dem HSV Hamburg, treu und agiert nun als Sportdirektor, Prokurist und Vizepräsident des Vereins (siehe Story S. 32). IN HAMBURG SAGT MAN TSCHÜSS
NEWS
BEIM EX-BUNDESLIGASPIELER ALEXANDER PETERSSON ZU SEINEM ERFOLGREICHEN COMEBACK MIT 44 JAHREN BEI VALUR REYKJAVIK. NACHGEFRAGT
Im Herbst 2023 hatten Sie auch einen Gastauftritt in Katar bei Al-Arabi. Wie kam es dazu? P etersson : Als ich die Anfrage für das Turnier bekam, sagte ich zuerst, ich wüsste nicht, ob ich im November überhaupt noch am Leben bin. Aber dann war ich doch ganz fit und der Ausflug war sehr interessant. Haben Sie bei dem Turnier auch an dere Stars aus Europa getroffen? P etersson : Petar Nenadić war da und noch paar andere alte Bekannte. Nationalmannschaft-Coach Snorri Guðjónsson ist auch ein Freund von Ihnen. Was sagen Sie, wenn auch er anruft? P etersson : Ich stand zuletzt noch im erweiterten Kader, aber jetzt ist damit Schluss. So gut bin ich nicht mehr. Sie haben in der vergangenen Saison den isländischen Pokal und den EHF European Cup 2023/24 gewonnen. Wollen Sie zum Karriereende noch den Meistertitel? P etersson : Mindestens (lacht). Theoretisch ginge noch mehr, wir spielen aktuell auch in der EHF Euro pean League, aber da haben wir nicht so gute Chancen. Auf die Reisen nach Melsungen und Vardar freue ich mich allerdings sehr. Es macht auch nach 26 Jahren Profikarriere großen Spaß, in dieser Atmosphäre Handball zu spielen. Zita Newerla
Bis wann kann man Ihrer Meinung nach Handball spielen? A lexander P etersson : Wenn man nur in der Abwehr eingesetzt wird, kann man die Karriere durchaus et was hinauszögern. Ich denke aber, dass es meine letzte Saison ist. Das haben Sie über die Spielzeit 2021/22 auch gesagt. Wie kam es jetzt zum Comeback? P etersson : Nach meinem offizi ellen Karriereende lebte ich noch ein ganzes Jahr in Deutschland. Meine Frau Eivor arbeitete bereits als Lehrerin auf Island und ich kümmerte mich quasi „als Haus mann“ um unsere Söhne. Tomas ging dort noch zur Schule, spielte Fußball bei Astoria Walldorf und Lukas stand bei Hoffenheim im Tor. Vormittags war ich meistens auf dem Golfplatz und abends, während die Jungs ihre Trainings einheiten absolvierten, schwitzte ich im Kraftraum. Zwischendurch bekochte ich unsere Männer-WG und erledigte, was so anfiel. Im Sommer 2023 zogen Sie dann auch nach Island. P etersson : Es dauerte nicht lange und mein Telefon klingelte. Óskar Bjarni Óskarsson, Coach von Valur und ein guter Freund von mir, fragte mich, ob ich mitmachen will. Was sagten Sie? P etersson : Warum nicht? Die Ant wort kam vielleicht etwas schnell, ein
ganzes Jahr hatte ich ja mit keinem Team trainiert.
Wie hat sich der Neustart angefühlt? P etersson : Nach jeder Trainings einheit war ich froh, dass ich mir nichts gebrochen habe. Drei bis vier Wochen später fühlte sich aber alles wieder normal an.
Foto: Valur Reykjavik
Waren Fans und Medien nicht überrascht? P etersson : Am Anfang gab es so gar einen regelrechen Hype. Es hieß, wow, Aaron Palmarsson und Alex Petersson spielen wieder hier, in der Liga! Drei Spiele später hat das dann niemanden mehr interessiert – so ist Island.
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NEWS
AUFARBEITUNGSKOMMISSION: ENTSCHEIDUNG VERTAGT
Das Forum Club Handball (FCH), die Interessenvereinigung der euro päischen Spitzenclubs, hat auf seiner letzten Sitzung auf Mallorca für die operative Ebene den Nachfolger von Geschäftsführer Gerd Butzeck gefun den: Gregor Planteu, der Präsident des slowenischen Traditionsclubs RK Celje, wird ab Sommer 2025 von Butzeck übernehmen, der die Ge schäfte der Organisation seit ihrer Gründung im Jahr 2006 führt. Plan teu, der international gut vernetzt und allseits anerkannt ist, amtierte bereits als Präsident des FCH und vertritt die Clubs aktuell in Kommis sionen der Europäischen Handball Föderation. „Ich halte ihn für eine sehr gute Lösung“, sagte Butzeck, er werde Planteu ab Januar 2025 in die Aufgabe einarbeiten. NEUER CLUBBOSS
(Köln) hatten ihrerseits die Argumente des Gerichts unter anderem in der FAZ kritisiert. Das Landgericht Dortmund hat nun sowohl über die Einstweilige Verfügung als auch über das Haupt sacheverfahren zu entscheiden; die Kammer deutete in der Sitzung jedoch an, dass es dem OLG folgen werde, falls keine neuen Sachargumente vor getragen würden. Der DHB hatte die Kommission ein gesetzt, um die massiven Vorwürfe vie ler Handballerinnen gegen den Trainer Fuhr zu klären, die im Oktober 2022 öffentlich geworden waren. Fuhr hatte die Vorwürfe später sämtlich bestritten. Ursprünglich war der Abschlussbericht der Kommission für Ende 2024 ange kündigt worden. Der nächste Termin vor dem Landgericht Dortmund ist für den 15. November angesetzt.
Das Landgericht Dortmund hat die Entscheidung über die Aufarbeitungs kommission des Deutschen Handball bundes (DHB) vertagt. Stattdessen einigten sich die Parteien am 26. Sep tember darauf, dass das Gericht einen Vergleichsvorschlag in der Sache aus arbeiten werde. Die Kammer hat über die Klage des Trainers André Fuhr gegen den DHB zu entscheiden, der im Juli vor dem Oberlandesgericht Hamm eine Einstweilige Verfügung erwirkt hatte, wonach die Arbeit der Kommission zu stoppen sei. Das OLG Hamm hatte insbesondere die mangelnde Unschuldsvermutung der Kommission kritisiert und mo niert, die Satzung des DHB sehe die Einsetzung einer solchen Kommissi on nicht vor (siehe Ausgabe HI #58). Rechtsexperten wie Johannes Orth
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Das Kompendium über den deutschen Handball
NEWS
179.OOO
Euro zahlt der Bund für ein Forschungsprojekt, das sich bis 2026 mit dem Rückgang der Mitgliederzahlen in jungen Altersgruppen beschäftigt.
Verbandes“, sagte Dr. Boss auf Anfrage von HANDBALL inside. Das Forschungsprojekt, das vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft mit einer Gesamtsumme von 179.000 Euro gefördert wird, wurde in enger Kooperation mit dem DHB Vorstandsmitglied Martin
ausgeprägt sind, aber auch darin, wie das Image entsteht“, beschreibt Prof. Jens Kleinert eine der Hypothesen“. Dabei werden die Wissenschaftler auch betrachten, wie soziale Medien zur Entwicklung des Handballimages bei
Warum fühlen sich weniger Kinder und Jugendliche vom Handballsport angesprochen? Antworten auf die se Frage suchen Univ.-Prof. Dr. Jens Kleinert und Dr. Martin Boss vom Psy chologischen Institut der Deutschen
Sporthochschule Köln in Ko operation mit Prof. Dr. Stefan König von der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Die Forscher gehen davon aus, dass das Bild, das sich viele Kinder und Jugendliche vom Handball machen, nicht zu ihren Bewe gungs- und Sportmotiven passt. Bis März 2026 werden die beiden Hochschulen rund 500 „Kinder und Jugendliche“ in terviewen und schriftliche Be
Goepfert vorbereitet. „Uns ist wichtig, gerade auch die Wahr nehmung und die Einstellun gen derjenigen Kinder und Jugendlichen zu erfassen, die mit dem Handballspielen bis lang nichts zu tun hatten. Denn gerade diese Gruppe ist für den DHB als zukünftige Mitglie der interessant“, erklärt Prof. Stefan König von der Pädago
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gischen Hochschule Weingarten. Am Ende sollen Handlungsempfehlungen stehen, die Strategien und konkrete Maßnahmen zur Motivation von Kin dern und Jugendlichen aufzeigen.
tragen, welchen Einfluss Bezugsgrup pen wie Gleichaltrige bzw. Peergroups oder Familie haben – und auch, warum kaum Migrantenkinder Handball spie len. „Das war ein weiteres Anliegen des
fragungen durchführen. „Wir gehen davon aus, dass sich sowohl Mädchen und Jungen als auch Kinder und Ju gendliche unterscheiden, nämlich vor allem darin, wie Image und Motive
DHB: SCHON ZEHN MILLIONEN EURO FÜR „HAUS DES HANDBALLS“
„Wir haben zehn Millionen Euro dafür auf der hohen Kante“, sagte Michelmann, allerdings sei für einen Neubau ein Vielfaches zu veranschla gen. Der DHB-Vorstand befasse sich derzeit mit Standorten in Dortmund und Köln. Geplant sei, in einem sol chen Haus auch den westlichen Standort der vier weiblichen Nach wuchsakademien anzusiedeln. Bis her hat sich der Dachverband auf die Standorte Stuttgart und Leip zig festgelegt. Für den Norden zeichnet sich Hamburg (siehe nebenstehende News) ab.
Im Jahr 2019 hatte der Präsident des Deutschen Handballbundes, Andreas Michelmann, erstmals ei nen Neubau für den Dachverband ins Auge gefasst. „Ziel ist auch für uns eine Zentrale nach dem Vorbild Frankreichs, eine Heimat für den deutschen Handball, mit Halle, Aka demie und Geschäftsstelle“, sagte Michelmann seinerzeit (vgl. Beitrag in HI #26). Seither war von diesem Großprojekt nichts mehr zu hö ren. Erledigt aber ist es keineswegs, wie der Präsident im Gespräch mit HANDBALL inside erklärte.
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NEWS
75 JAHRE DHB: VERBAND FEIERT IN MÜLHEIM AN DER RUHR
balls irgendwann in einem Museum präsentieren zu können, sagte Kuhl- mann: „Träumen Sie bitte mit und helfen Sie mit, dass dieser Wunsch
(1978). Auf der anderen Seite erinner te der Sportwissenschaftler aber auch an Ereignisse wie den geglückten Ver einigungsprozess mit dem DHV der
Mit einem Festakt auf historischem Boden hat der Deutsche Handball bund sein Jubiläum gefeiert. Der Dachverband lud in die Stadthalle in
Wirklichkeit wird!“ Ein Zwi schenschritt dahin stellt der „Historische Handball“ dar, den der DHB auf dem Fest akt der Stadt Mülheim als Gründungsort des Verban des verlieh. Damit soll auch künftig an wichtige Orte des deutschen Handballs erin nert werden. Die Idee dazu sei ihm beim Joggen gekom men, verriet Kuhlmann. In Talkrunden rund um den aktuellen Handball ging es beispielsweise um die För derung des Nachwuchses und
Mülheim an der Ruhr, wo vor 75 Jahren, am 1. Oktober 1949, der DHB aus der Tau fe gehoben wurde. Zu den Gästen gehörte auch Tho mas Weikert, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Der neue Geschichtsbe auftragte des DHB, Prof. Dr. Detlef Kuhlmann (Foto), zitierte in seiner Rede aus dem Gründungsprotokoll und setzte in seiner Bilanz wichtige sportliche Zäsuren: das Ende des Feldhandballs
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um die Frauen-WM 2025, über die Ex Nationalspielerin und DHB-Mitarbei terin Saskia Lang Auskunft gab.
DDR nach der „Wende“ 1989/1990. Sein größter Traum sei es, die gro ße Geschichte des deutschen Hand
(1966), die Premiere des olympischen Hallenhandballs in München (1972) und den WM-Titel in Kopenhagen
WEIBLICHER NACHWUCHS: DHB PLANT STÜTZPUNKT IN HAMBURG
Rund um eines der zentralen Pro jekte des Deutschen Handballbun des war es zuletzt still geworden: Nach der internen Entscheidung des Dachverbandes 2023, den weib lichen Nachwuchs künftig zunächst in zwei Zentren – in Stuttgart und in Leipzig – ab der Saison 2025/26 zu konzentrieren und zu schulen, waren Details dazu nicht mehr öf fentlich geworden. Nun aber gibt es Neuigkeiten für die Region Nord. Nach Angaben von DHB-Präsident Andreas Michelmann soll der weibli che Nachwuchs (im Bild eine Spiele rin der Talentschmiede Handewitter SV) des Nordens demnächst in Ham burg zusammengezogen werden. Er habe darüber am 5. September 2024 „ein sehr gutes und konkretes Ge
spräch“ mit Hamburgs Innensenator Andy Grote und Staatsrat Christoph Holstein geführt, sagte Michelmann gegenüber HANDBALL inside. Das Zentrum solle zunächst im Gelände des Olympiastützpunktes am Alten Teichberg in Hamburg Dulsberg angesiedelt werden, so Michelmann. Die Hansestadt erwä ge, dafür eine weitere Halle für den Handball errichten zu lassen, Staats rat Holstein sei mit entsprechenden Planungen beauftragt. Die nö tigen Schul- und Internats plätze stünden bereits zur Verfügung. Weite Teile der Frau en-Bun
desliga dieses DHB-Projekt weiterhin skeptisch. Man warte gespannt auf eine kon krete Umsetzung, sagte ein Clubge schäftsführer mit ironischem Ton: „Das wird in hundert Jahren nichts.“ HBF sehen
Foto: Steffi Backen
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KOLUMNE – VON UWE GENSHEIMER: Neue Perspektiven
und Kommunikation. Um einen best möglichen Übergang zu gewährleisten, besuche ich regelmäßig Führungskräf te-Seminare, die mir wertvolle Impulse für meine Arbeit geben. Momentan probiere ich mich zu dem als TV-Experte aus. Dabei han delt es sich nicht um erste journalistische
ein Kesselflicker geflucht habe, weiß ich nicht genau. Aber dieser Zustand, hinter dem Zeitnehmertisch wie auf heißen Kohlen zu sitzen und keinen Einfluss auf das Spielgeschehen neh men zu können, ist eine extrem emo tionale Angelegenheit. Du fühlst dich
Inzwischen ist es einige Monate her, dass ich bei meinem Heimatverein, den Rhein-Neckar Löwen, die Seiten gewechselt habe. Mein erstes Fazit: Die Karriere nach der aktiven Karriere fühlt sich auch ziemlich aktiv an! Die Arbeitstage sind definitiv länger
und auch mein Kopf rat tert mehr. Nicht nur mein Fokus hat sich deutlich verändert, als Sportchef muss ich stets das gro ße Ganze im Blick haben und strategisch an der Zukunft unseres Vereins feilen. Dennoch kneife ich mich ab und zu selbst, damit ich im Löwen Trainingskomplex nicht täglich wie gewohnt in die Kabine, sondern Rich tung Büro abbiege. Die Arbeit am Schreibtisch ist aber gar nicht das, was die größte Umstellung für mich bedeutet.
Gehversuche, sondern ich engagiere mich für ein neues Streaming portal, das einen subli zensierten Sender ohne Bezahlschranken einem breiten Publikum zu gänglich machen will. Eine solche Plattform, die rund um die Uhr hochwertige Handball spiele zeigt, hätte ich mir in meiner Jugend gewünscht! Dieser Ne benjob bereitet mir wirklich viel Freude. Kürzlich in Magdeburg
Foto: Kempa
erlebte ich, wie anders man empfan gen wird, wenn man nicht als Bun desliga-Gegner in die Halle kommt. Zum ersten Mal fühlte ich mich in der GETEC-Arena wirklich willkommen. Und auch ich nahm alles mit anderen Augen wahr: das Spiel, die Fankultur und die Stimmung. Es war ein wirklich toller Abend und Handball ist immer noch der beste Sport der Welt!
wie in Trance – das habe ich so im Vorfeld nicht erwartet. Dass ich während des Spiels nicht mit der Mannschaft auf der Bank sitze, ist eine bewusste Entscheidung, die jedoch nichts mit dem Wunsch nach räum lichem Abstand zu tun hat. Es ist ver ständlich, dass sich alle Beteiligten erst an die neue Konstellation gewöhnen müssen, wenn ein Teamkollege in die Vereinsführung wechselt. Doch Auto rität entsteht nicht durch Distanz, son dern durch Handeln, Entscheidungen
Eine interessante Erfahrung ist, dass ich aktuell nach einem Spiel mental mehr kaputt bin als zu meinen aktiven Zeiten auf der Linksaußen-Position. Gleich beim ersten Heimspiel meinte Jutta Ehrmann zu mir: Na, da haben wir den neuen Karsten Günther! Über den Vergleich mit dem Leipziger Ge schäftsführer, der immer besonders leidenschaftlich am Spielfeld steht, musste ich natürlich lachen. Ob ich während der 60 Minuten heftig gewe delt, dynamisch gefuchtelt oder wie
Euer Uwe
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Foto: Newerla
Plötzlich Olympiaheld Marko Grgic war in Paris der jüngste Silbermedaillengewinner im DHB Team. Der 21-Jährige, der vor drei Jahren noch in der 3. Liga spielte, hat eine bemerkenswerte Reise hinter sich – bescheiden bleibt der Eisenacher dennoch. W ie waren die letzten Monate für Dich? Diese Frage kann Marko Grgic schon nicht ist ja auch alles frisch gewaschen.“ Und wenn der junge Mann lacht, dann lacht sein ganzes Gesicht – man muss ihn einfach mögen. sel, Geldbeutel und höchstens ein paar Bonbons sind da drin“, sagt
er. „Und ehrlicherweise kann ich auch die Sprache kaum, wenn wir bei meiner Oma zu Besuch sind, muss mein Papa das meiste übersetzen.“
mehr hören, auch wenn die Antwort natürlich jeden interessiert. Über sei nen Senkrechtstart staunen Handball fans und Medien genauso, wie über die Coolness des jungen Eisenachers, der im vergangenen Sommer mit ge rade mal 20 Jahren gemeinsam mit dem deutschen Team die Olympischen Spiele gerockt hat. Aber wer ist dieser Typ eigentlich und wie tickt er? Marko Grgic erscheint pünktlich. Er kommt direkt vom Training. Ob ihn die Menschen hier sofort erkennen, ist nicht ganz klar. Auffällig ist jedoch, wie wenig den Nationalspieler der Hype um seine eigene Person interessiert. Er ist eine beeindruckende Erscheinung. Der muskulöse Zwei-Meter-Riese, mit leicht zerzausten dunklen Locken und von Kopf bis Fuß in Trainingsklamot ten, duftet nach Weichspüler. Über diese Bemerkung muss er lachen. „Es
Der Name Grgic ist ein Zungenbre cher. Selbst nach dem Gewinn der Olympia-Silbermedaille im August wird er weiterhin oft noch falsch ge schrieben. „Es gibt schon viele schrä ge Versionen davon, teilweise sind die sogar lustig.“ Die „richtige Version“ ist kroatisch und passt perfekt zum Hand ballstil des 21-Jährigen, „ich spiele wie ein Jugo, doch ansonsten bin ich schon sehr deutsch.“ Grgic ist weder „schnell auf Tempe ratur“, noch reagiere er in bestimmten Situationen mit dem typischen osteuro päischen Stolz. Aber ein kleines Cross body-Herren-Bag, unter Handballern auch gerne „Jugo-Tasche“ genannt, die besitzt er schon. Über das gängige Klischee, dass die obligatorische Ziga rettenpackung der wichtigste Inhalt sei, kann er nur lachen. „Handy, Schlüs
DIE HEIMAT
Der Papa, der im Som merurlaub gerne auch als Dolmetscher fun giert, war selbst ein erfolgreicher Hand baller. Mit zarten 19 Jahren wechselte der
kroatische National spieler in die Bun desliga und blieb in Deutschland. Stralsund, Schut terwald, Eisenach und Saarlouis hießen die da-
TITELSTORY
ich ganz cool.“ Doch jeden Tag möchte er so etwas nicht über sich lesen, das wäre schließlich inflationär. „Mit der Medaille geht mir das auch so“. Das olympische Silber ist natürlich sein größter Stolz. Aber die Auszeichnung andauernd anzuschauen oder anzu fassen, „wäre einfach zu viel“. Die 507 Gramm schwere Silbermünze hängt in der Wohnung, gleich neben der Treppe, auf dem Weg zum Schlafzimmer. Dazu gesellen sich auch noch sein Eisenacher Aufstiegstrikot und das Olympia-Jersey mit den Unterschriften seiner DHB Teamkollegen. So fällt sein Blick höchs tens zwei-, dreimal am Tag auf seine bisherigen sportlichen Highlights. „Ich will gar nicht in der Vergangenheit ver harren, es gibt ja noch so viel, was ich gewinnen kann und will.“ Dieses Ziel verfolgt Grgic schon im mer. Als Sohn eines Profi-Handballers konnte er bereits in seiner Kindheit aus reichend Bundesliga-Luft schnuppern. Seine eigene Karriere begann er quasi mit der Grundschule beim HC Saarlou is, wo sich ab der B-Jugend nicht nur sein Talent, sondern auch sein großes Potenzial deutlich abzeichnete. Kinder von bekannten Sportlerper sönlichkeiten müssen oft in große Fuß stapfen treten, lernen jedoch schon von klein auf, worauf es im Profibusiness ankommt. Grgic wurde schnell bewusst, dass es auf dem Spielfeld auf keinen Fall angebracht ist, von großen Stars zu sehr beeindruckt zu sein, schließlich werden die ihn „nicht streicheln oder Lollis verteilen.“ Den nötigen Respekt besitzt er schon. „Aber ich bin nicht un sicher, wenn ich einem weltbekannten Torhüter wie Niklas Landin oder Vin cent Gérard gegenüberstehe.“ Das sei ja genau das, was Routiniers erreichen wollen, einen unerfahrenen Gegenspie ler auf wackeligen Beinen. In seinem ersten Jahr in der Bun desliga gab es zwar „einen Wow-Ef-
Auf die Frage nach der Lieblings schlagzeile zu seiner Person zögert Grgic etwas. Dann erwähnt er einen Artikel der BILD-Zeitung, in dem er als Olympiaheld bezeichnet wurde – das fand er ganz „cool“. Während er das erzählt, wirkt er eher schüchtern. Als ob ihm der Ruhm gleichzeitig auch ein wenig unangenehm ist. Deshalb folgt prompt auch eine Erklärung, „es geht mir nicht darum, dass ich so ein geiler Typ bin, ich war einfach nur stolz darauf, dass ich Teil dieser Mannschaft war, die als Olympiahel den betitelt wurde. Den Begriff finde
maligen Stationen des heute 47-Jähri gen, der, wie selbstverständlich, eine Handballerin geheiratet hat. „Wir sind eine absolute Handballer-Familie“, sagt Grgic Junior, der theoretisch auch für die kroatische Nationalmannschaft hätte spielen können. Doch das sei nie wirklich eine Option gewesen. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, mei ne Mutter und mein Bruder sind Deut sche, kroatisch ist nur die Familie von Papas Seite. Ich habe immer gesagt, wenn sich die Möglichkeit ergeben sollte, will ich mit dem Adler auf der Brust spielen.“
Foto: imago
Bissfestes Silber: Grgic mit seiner Olympiamedaille
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In der Dritten Liga hatte Grgic ei nen perfekten Lauf. Dass der damals 18-Jährige sportlich „auf dem großen Sprung“ ist, war eigentlich schon da mals jedem klar. Den oft zitierten ersten Anruf gab es vor dem Wechsel zum ThSV tatsäch lich gar nicht. „Ich war zu Hause, und auf dem Weg in mein Zimmer fragte mein Papa fast schon nebenbei, ob ich Interesse hätte, nach Eisenach zu ge hen. Ich sagte, na klar, ohne mir viele Gedanken darüber zu machen.“ Bei dem Verein in seiner Geburts stadt den ersten Profivertrag zu unter schreiben, auf der Position, wo genau 20 Jahre zuvor auch schon sein Vater spielte, fühlte sich irgendwie ganz gut an. Auch die Tatsache, dass er ab jetzt eine eigene Wohnung beziehen kann, reizte ihn. „Ich liebe es, auch mal allei ne zu sein, ich wollte endlich ausprobie ren, wie sich das sieben Tage die Woche anfühlt.“ Kochen und Saubermachen waren kein Problem. Aber wirklich alles alleine zu regeln, den Alltag mit vielen organisatorischen Hürden, das hat anfangs nicht immer reibungslos geklappt. Einen Termin beim Kieferor thopäden, früh am Morgen, hat Grgic auch schon mal verschlafen. Seine Ausbildung zum Bankkaufmann, die er im Saarland begann und nun bei der Wartburg-Sparkasse fortsetzte, nahm er allerdings sehr ernst. Täglich von 8 bis 16 Uhr arbeitete Eisenachs Neuzugang nun in der Bank. Eine halbe Stunde nach dem Feier abend begann die Video-Vorbereitung mit der Mannschaft und anschließend das Training – der Tag war komplett durchstrukturiert. Auch sportlich musste sich der damals 18-Jährige neuen Herausforderungen stellen, „in der 2. Liga zu spielen, war ein riesiger TAFFE TAKTUNG
Der Anruf von Alfred Gislason hat den sonst so selbstbewussten Eisena cher ziemlich kalt erwischt. „Ich Qualitätsunterschied. Nicht nur beim Tempo liegen Welten dazwischen.“ Zu mal der Club schon immer große Am bitionen hegte. Die erste Liga war ein erklärtes Ziel für die Mannschaft, die sich bis zum Schluss ein Kopf-an-Kopf - Rennen mit Dessau lieferte. „Dass wir wirklich aufsteigen, realisierten wir erst beim letzten Spiel der Saison 2022/23 gegen Coburg in der 60. Mi nute“, sagt er und lacht. Marko Grgic trinkt eigentlich kei nen Alkohol. Im Sommer 2023, bei der dreitägigen Aufstiegsparty hat er allerdings eine kleine Ausnahme ge macht. „Danach sind die meisten aus dem Team noch in Richtung Mallor ca aufgebrochen, um weiterzufeiern, aber ich fuhr mit meinem Papa in den Urlaub nach Kroatien.“ Er kannte das Programm auf Malle aus dem vergan genen Jahr und entschied sich dieses Mal für „die entspanntere Variante“. Eisenach ist gekommen, um zu bleiben. „Es gibt nichts Geileres, als nach Magdeburg, nach Flensburg oder nach Kiel fahren zu dürfen“, sagt Grgic auf die Frage, ob sich die erste Liga für einen Aufsteiger auch mal ernüchternd anfühlt. „Wir haben uns von Anfang an mit unserem be sonderen Spielstil abgehoben, es war trotzdem klar, dass wir auch Spiele verlieren werden. Die Fans haben uns dennoch weiterhin supportet.“ Diese Euphorie und Leidenschaft hat die Wartburg zu einer wahren Festung gemacht. Auch große Teams, wie die Rhein-Neckar Löwen oder die SG Flensburg-Handewitt, gaben in der Werner-Aßmann-Halle wertvolle Punkte ab. Die Mission Klassenerhalt wurde somit erfolgreich abgehakt – Grgic steuerte in 27 Spielen insgesamt 100 Treffer bei.
fekt“. Aber die Angst, vor einer großen Kulisse zu spielen, wie beispielsweise in der bis an die Decke ausverkauften Wunderino Arena, verspüre der junge Rückraumspieler nie. „Es gibt schon eine Aufregung, allerdings verfliegt die beim Anpfiff sofort.“ Wenn es um den Sieg geht, sei es ihm egal, ob man vor 200 oder 28.000 Zuschauern, wie im französischen Lille, spielen würde. So unaufgeregt, wie Grgic seine ers ten Begegnungen mit den Handball Stars schildert, erzählt er auch von seinem Weg nach Eisenach. „In der Heimat lebten wir alle unter einem Dach, und es war irgendwie klar, dass für mich bald ein neuer Schritt kom men muss.“ Wenn Grgic über seine „Heimat“ spricht, lacht sein ganzes Gesicht wieder. Zeitungen schreiben zwar gerne, dass er ein ThSV-Eigen gewächs wäre, doch diese Behauptung stimmt nicht. „Eisenach ist meine Ge burtsstadt, doch aufgewachsen, lesen, schreiben und Handballspielen, das habe ich alles im Saarland gelernt, dort bin ich zu Hause.“ Ganze 13 Jah re lang trug er das Trikot vom HC Saarlouis, dem Verein, für den sein Bruder bis heute spielt – und wo auch Vater Danijel seine lange Karriere be endete und dann den Weg als Trainer eingeschlagen hat. „Mit Papa habe ich selten über Hand ball gesprochen. Wenn er etwas zu mei nem Spiel zu sagen versuchte, nahm ich das sofort als Kritik auf. Welcher Teen ager will sich nach dem Abpfiff schon etwas von seinen Eltern anhören?“ In der A-Jugend Bundesliga kreuz ten sich die Wege der Grgics und Marko musste dieses Mal zuhören. Papa Danijel war nun sein Coach. „Da waren wir auch nicht immer einer Meinung“, sagt der Filius und lacht. Die Saison wurde allerdings Corona bedingt abgebrochen – irgendwie ein Glück im Unglück.
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gendwelche DHB-Schriftstücke und IHF-Unterlagen unterschreiben, und ich fragte mich: Wieso sonst sollte man sich die Mühe machen, diese Do kumente rechtzeitig abzuschicken.“ Dennoch wurde der Sommer zu nächst komplett verplant. Auf den Urlaub mit den Eltern sollte ein Män nertrip nach Barcelona folgen – mit viel Sonne, Strand und alkoholfreien Kaltgetränken. Und dann die Sensation: Nur einen Monat nach seinem ersten Spiel für die Deutsche Nationalmannschaft wurde der junge Eisenacher in den Olympia Kader berufen! „In den ersten Tagen war das Olym pische Dorf für mich Gänsehaut pur! Überall, wo du rumläufst, siehst du Top-Athleten“, Grgic fühlte sich, als ob er eine Figur in einem Video-Spiel wäre – alles erschien komplett surreal. Die aus den Medien bekannt ge wordenen Automaten für Kondome und Lecktücher hat der junge Mann im Dorf kein einziges Mal gesehen. Überhaupt erfuhr er von dem Thema über Freunde aus Deutschland, die ihn eifrig nach diesen Vorrichtungen frag ten. „Das hätte in unserer Männer-WG auch nichts zu suchen.“ Diesmal war Kapitän Johannes Gol la der Zimmerpartner. Der Start lief für das DHB-Team fantastisch. Wie eine Mannschaft letztlich in einen sol chen Flow kommt? Direkt nach dem ersten Spiel soll den Männern klar gewesen sein, dass da was geht. „Das Halbfinale zu erreichen, war unser klar definiertes Ziel. Als wir Schweden ge schlagen haben, wussten wir, dass das auch funktionieren kann.“ Gislasons Männer meisterten tapfer die Vorrun de und zogen im Viertelfinale, nach ei ner hart erkämpften Verlängerung, an GÄNSEHAUT PUR
dem designierten Titelverteidiger und Gastgeber Frankreich vorbei. „Zuerst fand ich es sehr schade, dass wir für die Hauptrunde das Olympische Dorf verlassen mussten. In Lille waren wir in einem Leistungs zentrum untergebracht, in diesem Internat kam das internationale Flair zunächst nicht so auf.“ Doch kaum im Fußball-Stadion „Stade Pierre Mauroy“ angekommen, änderte der junge Mann seine Meinung. „Es war ein unbeschreibliches Gefühl.“ Dass 99 Prozent der Zuschauer lautstark Karabatic und Co. anfeuerten, fand Grgic elektrisierend, „es gibt nichts Geileres als so ein Pfeifkonzert“. Mit einer Wahnsinns-Aufholjagd und einer hart erkämpften Verlän gerung zogen die DHB-Männer in dieser historischen Kulisse an dem designierten Titelverteidiger und Gastgeber Frankreich vorbei. Dieser Sieg, da sind sich Experten, Fans und die Mannschaft selbst einig, bleibt für immer unvergessen. Doch viel Zeit für Jubel, Trubel, Heiterkeit blieb nicht. „Nur eineinhalb Tage später ging es weiter.“ Volle Konzen tration war wieder angesagt. Auch im Halbfinale war das DHB-Team nicht zu stoppen. Souverän wiesen Gisla sons Männer das spanische Team, die Bronzemedaillengewinner von Tokio 2020, in ihre Schranken – und das bereits zum zweiten Mal in die sem denkwürdigen Turnier. „Das einzig ätzende an Paris 2024 war, dass wir im Finale richtig auf den Sack bekommen haben“, resümiert Grgic. Sein Zimmerpartner, Kapitän Golla, soll so „brutal angepisst“ ge wesen sein, dass er das Endspiel am liebsten gleich nach dem Abpfiff noch einmal gespielt hätte. Für viele im Team war es bitter süß, eine so beeindruckende Tour mit einer Niederlage abzuschließen. Es
war bei der Sparkasse, als auf dem Display meines Handys eine unbe kannte Nummer erschien“, erzählt Grgic, „schon an der Stimme erkannte ich den Bundestrainer.“ Die Nummer des Isländers hat er daraufhin schnell abgespeichert. Was Gislason in dem kurzen Telefonat allerdings alles ge sagt hat, daran kann sich der 21-Jäh rige nur noch skizzenhaft erinnern. In dem ersten Gespräch ging es um die Zukunftsvorstellungen des jungen Mannes und darum, wo die Reise hin gehen könnte. „Da war Paris 2024 gar kein Thema.“ Die Einladung zum ersten DHB Lehrgang folgte bald. Als Zimmer kollege wurde der Debütant dem erfahrensten Spieler im Team, Andi Wolff, zugeteilt. Und auch jetzt machte sich das Greenhorn nicht in die Hosen. „Zum Glück hatten wir in unserem Zimmer kein Doppelbett, denn neben Andi hätte ich keinen Platz gehabt.“ Während des Lehrgangs soll es eine entspannte WG gewesen sein. „Andi schaute die meiste Zeit seine Serie auf dem Handy und war sehr freundlich zu mir.“ Am 12. Mai 2024, im Testspiel gegen Schweden, feierte Grgic dann sein Debüt. „Ich war unglaublich stolz und dachte nur, selbst mit diesem ei nen Länderspiel, wenn ich nie wie der eingeladen werden sollte, bin ich jetzt Nationalspieler.“ Dieses Prädikat gibt's nämlich dann für immer. Dass Olympia immer noch kein The ma ist, machte Gislason weiterhin klar. Grgic war komplett einverstanden, im merhin stand im Sommer auch noch seine Abschlussprüfung zum Bank kaufmann an. „Ich sollte im Herbst wieder zur Nationalmannschaft sto ßen, mit Blick auf die WM 2025.“ Zwischendurch gab es aber wohl klei ne Anzeichen, die dem 20-Jährigen verrieten, dass das Unmögliche doch nicht so abwegig ist. „Ich musste ir
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nach dem offiziellen Part wieder ins Hotel flüchtete. „Ich bin doch erst ein halbes Jahr dabei und durfte kurz Olympia spielen. Aber was soll ich zwischen all den Fußball-Legenden und Sportgiganten?“ Dass er seine Einstellung zum roten Teppich ir gendwann ändert, wäre möglich. Aber jetzt, mit gerade mal 21 Jahren, sei das alles noch nicht „verdient“. Auf diesem Level sei er noch nicht ange kommen – nicht einmal mit seiner Silbermedaille. Zita Newerla
Angebot aus Eisenach als Jugendko ordinator bekam, zogen auch er und Mutter Ina nach Thüringen. „Ich hätte mir das nicht besser er träumen können als es momentan läuft“, sagt Grgic. „Auch, wenn die zweite Spielzeit in der Bundesliga natürlich schwieriger ist als die erste Saison und das Team derzeit schon ein paar Mal an sich selbst geschei tert ist.“ Nur das mit dem Rampenlicht wäre immer noch etwas ungewohnt. Hier ein Empfang, da eine Ehrung. Trotz des großen Erfolges fühlt sich der jun ge Mann bei solchen Events immer noch wie ein Fremdkörper, wie „be stellt und nicht abgeholt“. Er sei ein fach jemand, der alles lieber im Team macht. Die Kraft der Gemeinschaft zu spüren, wäre, wie er sagt, viel cooler, als eine Veranstaltung allein zu er öffnen. Anfragen dafür gäbe es. Dass große private Aufritte absoluter Hor ror für ihn werden können, erleb te er kürzlich in Hamburg. „Bei dem diesjährigen Sport Bild Award fühlte ich mich wirklich komplett fehl am Platz“, man konnte gar nicht so schnell schauen, wie rasch Grgic
dauerte tatsächlich einen Moment, bis man den Wahnsinns-Erfolg wirk lich begriffen hat.“ „Wir haben damit den Stellenwert von Deutschland im internationalen Handball nach oben gepuscht“, sagt Grgic heute stolz. Zur Abschlussfeier ging es für alle wieder nach Paris. Auf die Anwesen heit bei der Eröffnungszeremonie hat te die komplette deutsche Mannschaft bewusst verzichtet. „Wir wollten keine Ablenkung nur einen Tag vor dem ers ten Spiel, ich denke das war die abso lut richtige Entscheidung.“ Aber das Grande Finale wollten die Männer, die wieder ins Olympische Dorf zogen, hautnah erleben. „Meine Silberme daille habe ich im Zimmer versteckt“, erzählt der Grgic, „sorgfältig in eine Socke gewickelt, zwischen die anderen Klamotten gepackt und die Tür dop pelt abgeschlossen.“ Die darauf folgende Nacht war ex trem kurz. Nach der großen Party in Paris musste Grgic mit seinem Team um fünf Uhr am Flughafen sein. Die Reise nach Thüringen dauerte dann insgesamt elf Stunden. Nach ei nem kurzen Abstecher in Eisenach ging es wieder nach Saarlouis. „Von Dienstag bis Donnerstag war ich in der Heimat, um ein we nig Abstand von allem zu bekommen, bevor die Saison direkt wieder losgeht.“ Er war bei
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Freunden, denn das alte Zuhau se der Familie ist inzwischen verkauft. Nach dem beide Söhne ausgezogen waren, wurde das Haus zu groß, und als Vater Danijel das
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Das Imperium wankt Der THW Kiel dominierte in den letzten drei Jahrzehnten den deutschen Handball. Doch nun mehren sich die Zeichen, dass der Rekordmeister seine Vormachtstellung verliert. Eine Bestandsaufnahme.
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Riskante Wette auf einen Champions League-Platz: Toptransfer Andreas Wolff
S tille und Entsetzen. Als sich der Abend des 26. September 2024 in der Arena am Kleinen Kuh berg dem Ende zuneigt, strömen viele Zuschauer kopfschüttelnd und fas sungslos zu den Ausgängen. Pfiffe gibt es für den Auftritt des THW Kiel nicht. Diejenigen Fans, die nach Abpfiff noch ein paar Minuten stehen bleiben, sind einfach nur sprachlos. Entgeistert schauen sie auf das Spielfeld. Acht Tore nur hatten die „Zebras“ in der ersten Halbzeit gegen eine keines wegs formstarke MT Melsungen erzielt, ihr planloser Angriff war zerschellt an den Riesen in der Abwehr der Nord hessen. Nach der Pause kämpft das verletzungsgeschwächte Heimteam immerhin, aber am Ende steht eine deutliche 21:25-Niederlage gegen eine Mannschaft, die keineswegs zu den Topfavoriten in der Meisterschaft zählt. Die Schockwellen auf den Rängen geraten deshalb so heftig, weil der THW nur vier Tage zuvor einen spek
Man werde die Lehren aus dieser Saison ziehen, hatte Geschäftsführer Viktor Szilágyi noch in Köln versi chert, man werde an den notwendigen Stellschrauben drehen. Was irgend wie den Eindruck erweckte, dass nur Details zu verändern seien, die dem THW Kiel wieder den Weg an die Spitze der Bundesliga ebnen würden. Und dass das Zeitalter der Kieler He gemonie nur kurzzeitig unterbrochen worden sei und sich mit der neuen Saison fortsetzen werde. Zum Imperium wuchs der THW Kiel im Sommer 1993, als Trainer Noka Serdarusic das Zepter übernahm und, gemeinsam mit dem neuen Manager Uwe Schwenker, den schon immer ambitionierten Club prompt zur ersten Meisterschaft seit 1963 führte. Ins gesamt 20 Deutsche Meisterschaften und zwölf Siege im DHB-Pokal sam melten die Kieler seither – ihr Erfolg schien eine Art Naturgesetz. Doch jedes Imperium endet einmal. Selbst
takulären Auswärtssieg beim Titelver teidiger SC Magdeburg gelandet hat. Auch die Profis und der Trainer sind sichtlich angefasst nach der zweiten Niederlage im vierten Saisonspiel. Coach Filip Jicha verlässt mit gesenk tem Blick die Arena. Sein Team habe sich, sagt der Chefcoach später, „ein bisschen verunsichern lassen von der Linie der Schiedsrichter“. Der Auswärtssieg in Magdeburg hatte die Hoffnung genährt, dass die Saison des Grauens, die der THW im Vorjahr absolviert hatte, ein einma liger Ausrutscher gewesen war. Mit Platz Vier und 15 (!) Punkten Rück stand auf Magdeburg hatte der Re kordmeister erstmals seit 2019 die Champions League verpasst. Hinzu kam eine sensationelle Heimnieder lage im DHB-Pokal gegen die HSG Wetzlar – und, vor den Augen aller europäischen Fans, eine historische 18:30-Pleite im Halbfinale der Cham pions League gegen den FC Barcelona.
DIE UMSATZENTWICKLUNG DES THW KIEL SEIT 2011/12 (IN MILLIONEN EURO)
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Quelle: Prüfberichte der THW Kiel Handball-Bundesliga GmbH & Co. KG
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das Römische Reich ging irgend wann unter, weshalb die Historiker leidenschaftlich darüber debattieren, welche Symptome den Niedergang sichtbar machten. Weil der THW in der vergangenen Spielzeit weitere krasse Pleiten erleb te, in Montpellier, in Gummersbach und auch zu Hause gegen Melsungen und Aalborg, steht daher auch für den Handball diese Frage im Raum: Be deuten diese Risse, die das Reich des THW Kiel nun erneut bei der Heim niederlage gegen Melsungen offenbart, womöglich das Ende eines Zeitalters? Geht da just eine Ära zu Ende, so wie einst beim VfL Gummersbach? Die Macht des THW Kiel gründet sich von jeher auf der Gunst seines Publikums. Seit fast einem halben Jahrhundert strömen die Fans in Massen zu den Heimspielen. Nach der Vize-Meisterschaft 1983 stieg die Nachfrage in solche Höhen, dass die Kapazität der Ostseehalle im Jahr 2001 von 7.000 auf 10.250 Plätze auf gestockt werden konnte. Lange Zeit war es fast unmöglich, an Tickets zu kommen. Dauerkarten wurden gewis sermaßen vererbt. Und wenn doch welche in den Handel kamen, wurde das Anrecht auf den Kauf einer Dau erkarte, das sogenannte Stammblatt, für hohe Summen versteigert. Während die Konkurrenz für die Ti cketerlöse oft nur ins Ungewisse hinein kalkulieren konnte, vereinnahmte der THW durch den Dauerkartenverkauf schon vor dem ersten Spieltag rund die Hälfte seines Etats und kassierte dabei noch gute Zinsen. Dank langjäh riger lokaler Partner wie Citti, Famila oder die Provinzial stimmten zudem die Erlöse durch das Sponsoring. „Unverändert lassen die konstanten RISSE IM REICH
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Größter Sponsor des THW: das Publikum
Arena, wie schon zum Auftakt gegen Göppingen, gegen Melsungen jeden falls nicht ausverkauft. Insgesamt 9.721 Zuschauer fanden den Weg in die Halle, über 400 Plätze blieben leer. Mit einem solchen Zuschauer schnitt wäre der THW Kiel immer noch Krösus in der Liga. Anders als noch vor 20 Jahren gibt es aber inzwi schen einige Konkurrenten, die über eine ähnliche Infrastruktur verfügen, um annähernd hohe Zuschauererlö se zu generieren. Etwa die Recken in Hannover, die Löwen in Mannheim und auch die Füchse in Berlin. Die Kieler Fans jedenfalls sind von jeher der größte Sponsor des THW Kiel. Wenn der Zuspruch sinkt, gefähr det dies auch die monetäre Überle-
Werbeeinnahmen, der sehr hohe Dau erkartenanteil und die starke Nachfra ge nach Karten im Einzelverkauf keine Risiken über das normale Maß hinaus erkennen“, hieß es im Geschäftsbe richt des THW-Geschäftsführers nach der Saison 2016/17. Damals konnte es vorkommen, dass die Ränge in der Arena, obwohl sie offi ziell ausverkauft war, nicht vollständig besetzt waren. Denn es gab Fans, die eine Dauerkarte erwarben, um Höhe punkte wie die Derbys gegen Flensburg erleben zu können, die auf den Besuch anderer Partien aber verzichteten. Die Zeiten dieser ungebremsten Nachfrage sind jedoch offensichtlich vorbei. Trotz des überraschenden Aus wärtssieges in Magdeburg war die
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