HANDBALL inside | Ausgabe #59 5/2024
HISTORIE
Die Wasserschlacht Das letzte Endspiel in der Feldhandball-Bundesliga 1973 war eine Rutschpartie. Für den Meister TV Großwallstadt lässt sich dieser Titel als Prolog einer großen Ära im Hallenhandball deuten.
D as Spielfeld: eine Seenplat te. Trist und grau die Kulisse. Eine Wand aus Regenschir men versperrte den Fans die Sicht aufs Feld. Wasser spritzte auf, wenn einer der Handballer auf dem tiefen Geläuf zu einem Sprint ansetzte. Das war das Szenario, als Schiedsrichter Gerhard Schunke am 15. Juli 1973 um elf Uhr im Wetzlarer Stadion den letzten Akt in der Geschichte der Feldhandball Bundesliga anpfiff: das Finale um die Deutsche Meisterschaft zwischen dem TV Großwallstadt und dem SV Harleshausen-Kassel. Der gewaltige Wolkenbruch, der in diesem Moment über Mittelhessen niederging, symbolisierte die Agonie des Feldhandballs. In der Vereinshis torie von Großwallstadt zählt dieser Tag indes zu den Höhepunkten, weil der TVG in Wetzlar seine erste Deut sche Meisterschaft feierte. Mit 13:10 (6:4, 9:9) siegten die Mainfranken nach Verlängerung. Dabei waren sie als krasser Außenseiter angereist, da ihr wichtigster Torschütze, Josef Kar rer, wegen eines Achillessehnenrisses auf der Bank Platz nehmen musste. Gefeiert wurde der achtfache Tor schütze Peter Kuß. Namen wie Thomas Sinsel oder die späteren 78er-Welt meister Manfred Hofmann (Torwart) und Kurt Klühspies (Rückraum Rechts) schrieben später auch in der Halle Ge schichte. Beteiligt war auch Artur Licht
lein, der Vater des Europameisters von 2016: Carsten Lichtlein. „Es war richtig ekliges Wetter, der Ball rutschte wie Schmierseife aus den Händen“, erin nert sich Klühspies. „Aber ich habe trotzdem sehr schöne Erinnerungen an diesen Tag.“ Auch Wolfgang „Max“ Düming denkt gern an Wetzlar zurück. „Das war eine richtige Wasserschlacht“, sagt der Flügelspieler. Den meisten Zeitzeugen war bewusst, dass in Wetzlar eine ganze Sportart zu Grabe getragen wurde. Bundestrai ner Hotti Käsler indes wollte das nicht wahrhaben. „Der Feldhandball ist nicht tot“, flehte er. „Wir haben ledig lich nicht mehr die Organisationsform Bundesliga.“ DHB-Präsident Bernhard Thiele erklärte, der Verband wolle das Spiel auf dem Großfeld nicht abschaf fen. Aber das Publikum stimmte mit den Füßen ab. Es fanden sich nur 3.500 Fans ein. Sie sahen eine Rutschpartie mit zahlreichen Fehlpässen. Der Leder ball, vollgesogen mit Wasser, wog so viel wie eine Eisenkugel und war kaum zu kontrollieren. „Vielleicht wären bei Sonnenschein 15.000 Besucher gekommen“, mutmaß te Käsler. Aber das klang, als träumte sich der Bundestrainer in längst vergan gene Zeiten zurück. Zum Endspiel der ersten Bundesligasaison im Feldhand RUTSCHPARTIE
ball 1967 waren noch 22.000 Fans auf den Bieberer Berg nach Offenbach ge strömt und hatten den Finalsieg Grün Weiß Dankersens gegen Großwallstadt (19:16) bejubelt. Selbst in Großwallstadt waren in der Feldserie 1973 nur 400 Zu schauer pro Partie gekommen, weshalb der Verein nach dem Endspiel einen Verlust in Höhe von 10.000 Mark zu be klagen hatte. So vernehmlich die Wehklagen der Fans des Feldhandballs waren, so groß fiel der Jubel in der kleinen Gemeinde am Untermain aus. Bürgermeister Vo gel, der in seiner Jugend selbst ein he rausragender Feldhandballer gewesen war, begrüßte die Meistermannschaft im Rathaus mit Blumen. „Die ganze Ge meinde, ja der gesamte Landkreis kann stolz auf Euch sein“, sagte er. Er dankte auch den vielen Fans, die in drei Om nibussen und in einem Autokorso nach Wetzlar gefahren waren, um das Team zu unterstützen. „Das ist der größte sportliche Erfolg, der je von einem Ver ein aus dem Landkreis errungen wur de“, jubelte Landrat Oberle. Dieser verregnete 15. Juli 1973 war der Schlusspunkt des Großwallstädter Aufstiegs im Feldhandball, der in dem Buch „TV Großwallstadt. Eine Hand ballgeschichte“ (2013) mit viel Liebe nachgezeichnet worden ist. Zugleich aber lässt sich dieses Finale auf dem Feld als Prolog jener märchenhaften Ära deuten, in welcher der TVG
82
AUSGABE #59 5/2024
Made with FlippingBook Digital Publishing Software